Samstag, 27. Dezember 2008

Die (fehlende) russische Geschichtspolitik

Vorbemerkung: Mein gestriger Beitrag über den neuen Koltschak-Film "Der Admiral" hatte einige wichtige Fragen ausgeklammert, die nachfolgend diskutiert werden sollen, nämlich die geschichtspolitischen Aspekte dieses Films über den russischen Bürgerkrieg. Mit anderen Worten: Was sagt uns "Der Admiral" über den Umgang der Russen mit ihrer Geschichte? Läßt sich am Film und an anderen aktuellen Tendenzen so etwas wie eine staatliche Beeinflussung der Geschichtsdarstellung und -wahrnehmung feststellen?

1. Sowjetnostalgie?

Der Film hat zunächst - wieder einmal - die gern von vielen Medien kolportierte Vorstellung widerlegt, im heutigen Rußland herrsche weithin eine Sowjet- und Stalinnostalgie. Im Gegenteil:
"But it is interesting to note yet another facet of the conflicted Soviet legacy here: In modern Capitalist Russia, the Reds are sneaky and evil, and the Whites are heroic, God-fearing, Tsar-loving real Russians, pure and simple."
Oder wie es die Berliner Zeitung formuliert hat:
"Diese Szene, vor allem aber später der Angriff weißer Truppen unter General Kappel gegen Stellungen der Roten greifen Szenen aus der sowjetischen Filmgeschichte auf und deuten sie um. Wie in "Tschapajew" - dem Filmklassiker über einen roten Truppenführer, der bis heute als geliebte Witzfigur weiterlebt - marschieren die Weißen in Reih' und Glied auf ein Maschinengewehr zu. Aber sie tun das nicht mehr aus zaristischer Überheblichkeit, wie in der Vorlage von 1934, sondern weil ihnen die Munition ausgegangen ist; nicht in Paradeuniformen, sondern als abgerissene tapfere Soldaten.
Auch die Kamera hat die Seite gewechselt und sich unter die Weißen begeben. Diesen ideologischen Seitenwechsel haben viele Kritiker bemängelt. Folgt nun auf die einseitige Verurteilung der Weißen ihre ebenso einseitige Idealisierung - jedenfalls "bis zum nächsten Umsturz", wie die Nesawisimaja Gaseta scherzt? Nur die Filme der späten Sowjetzeit, konstatiert der Kommersant betrübt, hätten ein ausgewogenes Bild der Weißgardisten gezeigt, "die goldene Mitte zwischen Ausgeburten der Schurkerei und Engeln mit Flügelchen"."
Hier zeigt sich, daß es gerade die sog. "Liberalen" in Rußland sind, die der sowjetischen Geschichtsdarstellung hinterhertrauern.

2. Xenophobie?

Ein weiterer Vorwurf, der gegen den Film erhoben wurde, ist der der Fremdenfeindlichkeit:
"It is a French general and Czech forces who, in the end, deliver Kolchak to the Bolsheviks for execution. [...] In line with Russian ideology today, a foreigner can only be a foe, Gladilshchikov wrote."
Abgesehen davon, daß ich mich völlig außerstande sehe, so etwas wie eine zeitgenössische "russische Ideologie" zu erkennen, sprechen die historischen Fakten eine andere Sprache. Ich darf dazu aus Orlando Figes: "Die Tragödie eines Volkes", einem der Standardwerke zur Epoche von Revolution und Bürgerkrieg, zitieren (S. 697):
"Am 4. Januar 1920 erklärte Koltschak seinen Rücktritt, übergab den Befehl über seine Armee an Semjonow und fuhr mit den Tschechen nach Irkutsk, wo er erwartete, den alliierten Missionen übergeben zu werden. Er wurde jedoch hintergangen und an die Irkutsker Bolschewiki ausgeliefert. Soweit es sich heute feststellen läßt, lieferten die Tschechen ihn und sein Gold sehr wahrscheinlich im Tausch gegen eine sichere Durchfahrt nach Wladiwostok aus, von wo aus sie sich schließlich auf ihrer Heimreise rund um den Erdball nach Amerika einschiffen konnten. Weder das politische Zentrum noch die alliierten Missionen unternahmen etwas, um den Admiral zu retten."
Es ist unter Historikern unstrittig, daß die Tschechoslowakische Legion im Bürgerkrieg eine zwielichtige Rolle gespielt hat; ebenso ist das Taktieren namentlich der französischen Interventionstruppen durch zahlreiche Quellen belegt. Mithin gibt es im Film keinerlei Anhaltspunkte für die behauptete Xenophobie.



3. Mangel an Geschichtspolitik und Politischer Korrektheit

Kennzeichnend für das heutige Rußland ist vielmehr die von der Berliner Zeitung mit Verwunderung konstatierte Polarisierung, die der Film ausgelöst hat. Ist der Regisseur Patriot oder Geschichtsrevisionist, wie das Neue Deutschland fragt. Ist der "Admiral" eine Verunglimpfung der Oktoberrevolution oder das längst überfällige Gegengewicht zur jahrzehntelangen kommunistischen Propaganda? Keine dieser Fragen wird eindeutig und endgültig beantwortet. Folglich existieren verschiedene Geschichtsbilder nebeneinander her - ohne daß es zu einer staatlichen Intervention zwecks Durchsetzung einer bestimmten Meinung kommen würde. Dies ist das hervorstechendste Merkmal der aktuellen Geschichtsdebatten in Rußland.
Es gibt eben nicht nur Stalin-Fans, sondern auch solche des Generals Wlassow; nicht nur Anhänger Lenins, sondern auch Verehrer Koltschaks oder Kerenskijs. Alle diese dürfen sich weitgehend frei äußern und miteinander streiten. Dergleichen hat man sich in Deutschland, wo z.B. der § 130 StGB der historischen Forschung eine inhaltliche Linie vorgibt, mittlerweile entwöhnt. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß man in den hiesigen Medien so gern und oft auf einseitige Darstellungen ausweicht: entweder beklagt man die "Weißwaschung" Koltschaks oder man behauptet eine angeblich weit verbreitete Stalinnostalgie - und erkennt nicht, daß sich beides gegenseitig ausschließt.

Illustriert wird das eben Gesagte durch die beiden Fotos über und unter diesem Abschnitt, aufgenommen in Moskau im September 2007. Es ist keineswegs ungewöhnlich, an einem Gebäude eine Tafel zu finden, die an irgendwein - mit Lenin verbundenes - revolutionäres Ereignis erinnert. Gleichzeitig ist im selben Gebäude ein Geschäft für Luxusgüter untergebracht und davor stehen zuhauf Nobelkarossen, die sich auch die meisten Deutschen niemals werden leisten können. Wenn Lenin das sehen könnte, würde er vermutlich in seinem Mausoleum rotieren. ;-)

Die in Rußland herrschende Offenheit bezüglich historischer Forschung und der Diskussion ihrer Ergebnisse kann man außerdem daran ermessen, daß zahlreiche russische Historiker Arbeiten zur Präventivkriegsthese vorgelegt haben (und daß darüber auch offen diskutiert wird), für die sie in Deutschland als vermeintliche "Neonazis" stigmatisiert worden wären.



Der Beitrag wird morgen mit einem zweiten Teil fortgesetzt.


Nachtrag (28.12.2008): Die angekündigte Fortsetzung wird es - zumindest in der geplanten Form - vorerst nicht geben, da sich das Thema als sehr komplex erwiesen hat - zu aufwendig und zu lang für ein Weblog. Sollte seitens meiner Leser dennoch Interesse bestehen, bitte ich darum, dies kundzutun. Danke.


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