Freitag, 2. Juli 2010

Spionagevorwurf: Der Berg kreißte ...


... und gebar eine Maus. Auf diese Formel läßt sich wohl der Spionageskandal bringen, in den angeblich russische Spione in den USA verwickelt sein sollen. Als die ersten Meldungen darüber veröffentlicht wurden, dachte ich spontan, daß es angesichts des Getöses wahre Super-Spione sein mit Kontakten ins Pentagon oder Weiße Haus sein müßten. Mittlerweile ist klar, daß es selbst nach Meinung der US-Staatsanwaltschaft eben keine Spione waren. Ja, das ist richtig, denn man legt den Festgenommenen nicht etwa Spionage zur Last! In den Dokumenten der Staatsanwaltschaft heißt es vielmehr:
"[...]

In total, 11 defendants, including the 10 arrested, are charged in two separate criminal complaints with with conspiring to act as unlawful agents of the Russian Federation within the United States. Federal law prohibits individuals from acting as agents of foreign governments within the United States without prior notification to the U.S. Attorney General.

[...]"
Also weder Spionage noch Geheimnisverrat, sondern angebliche Tätigkeit als Vertreter eines fremden Staates, ohne dies zuvor beim US-Justizminister angezeigt zu haben. In einem amerikanischen Blog wurde schon gemunkelt, daß dies im Ergebnis auf eine Verurteilung wegen politischen Lobbyings ohne vorherigen Eintrag in die Lobbyliste hinauslaufen könnte. Pardon, aber die Vorwürfe gegen Super-Spione sehen anders aus.
Um der Anklage mehr Gewicht zu verleihen - der o.g. Straftatbestand trägt nur eine Höchststrafe von fünf Jahren - wird einigen außerdem Geldwäsche vorgeworfen, was die Betreffenden immerhin für zwanzig Jahre ins Gefängnis bringen könnte.

Wenn man den Nebel aufgewühlter Berichterstattung beiseitewischt, so treten reichlich banale Fakten zutage, die - wenn die Anklagebehörde nicht demnächst noch dramatische Beweise vorlegt - die Aufregung kaum wert sein dürften. Einem der Beschuldigten ist wohl zum Verhängnis geworden, daß er vor Jahren in China studiert hat. Eine peruanische Journalistin scheint aufgrund ihrer kritischen Artikel ins Visier der US-Behörden geraten zu sein. Bei anderen wird der Beweis für ihre "Agententätigkeit" darin gesehen, daß sie mehrfach mit Botschafts- oder Konsularbeamten der Rußländischen Föderation Kontakt hatten. Wenn es nach dieser paranoiden Anschuldigung ginge, wäre auch ich ein "russischer Spion", habe ich doch schon Attachés und anderen Offiziellen die Hand geschüttelt. Wobei es vielleicht doch nicht ganz so absurd ist, wenn die Staatsanwaltschaft vor Gericht keine Spionage, sondern lediglich die Tätigkeit als "unangemeldeter Vertreter" Rußlands beweisen will.
Dennoch mutet das ganze recht absonderlich an. Zudem wurde ein Teil der Beweise von agents provocateurs des FBI gesammelt. D.h. die Beschuldigten haben erst nach Aufforderung durch die Polizei Handlungen begangen, welche die Staatsanwaltschaft als illegal ansieht. Fragt sich nur, wie das Gericht dieses Vorgehen einschätzen wird.

Welche hochbrisanten Informationen sollen die Beschuldigten denn gewonnen haben? Haben sie Ministerien oder die Streitkräfte infiltriert? Davon ist keine Rede, vielmehr sollen sie über allgemeine politische Fragen nach Moskau berichtet haben: Die Verhandlungspositionen bezüglich des START-Vertrages, die US-Politik in Afghanistan usw. usf. Was haben sie getan, um an diese Informationen zu kommen? Vielleicht Zusammenfassungen der amerikanischen Presse geschrieben oder Newsletter diverser Think-tanks abboniert? Pardon, aber einem "Spion", der diesen Namen verdient, sollte man schon echte geheimdienstliche Tätigkeit nachweisen können.
Sollten die Beschuldigten tatsächlich Informationen nach Rußland übermittelt haben, dann dürfte das kaum mehr als "open source intelligence" gewesen sein. Echte "Deep-cover"-Spione (so werden die Festgenommenen in den USA genannt) würden jedenfalls nicht in einem "Spionagering" zusammenarbeiten, der sämtlichen Regeln der Konspiration widerspricht.

Und dann taucht der unvermeidliche Oleg Gordievsky auf. Dieser Mann lebt seit seiner Fahnenflucht 1985 (!) in Großbritannien, doch wird er immer wieder von den Medien als vermeintlicher Experte für die Nachrichtendienste Rußlands bemüht. Woher sollte jedoch sein angebliches Hintergrundwissen stammen? Aus Rußland wohl kaum, vielmehr dürfte ihm der SIS etwas souffliert haben, was er nun an die Öffentlichkeit bringen soll. So auch dieser Tage mit der so furchtbaren Nachricht, daß in den USA angeblich 50 russische "Spionagefamilien" leben sollen. Behauptungen eines alten Wichtigtuers ohne Belege.

Mancherorts wurde dieser Tage auch darauf hingewiesen, daß die Aktivitäten der rußländischen Nachrichtendienste eine Intensität wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges erreicht hätten. Abgesehen davon, daß diese Behauptung in keinster Weise überprüfbar ist (nicht einmal für Mitarbeiter der Spionageabwehr - warum sollten sie alle Aktivitäten anderer Dienste kennen?), so ist sie außerdem naiv und/oder heuchlerisch. Staaten versuchen immer, Informationen über die politische "Hinterbühne" anderer Staaten zu gewinnen und sie bedienen sie zu diesem Zweck - neben anderen Instrumenten wie den diplomatischen Vertretungen - auch ihrer Nachrichtendienste. Das war immer so, das ist so und das wird auch immer so sein. Ferner gilt: Solange CIA, BND & Co. fleißig gegen Rußland spionieren (Norbert Juretzko berichtet in seinen Publikationen nicht ohne Stolz davon), haben sie kein Recht, sich über ähnliche Aktivitäten russischer Dienste zu beklagen. Man und sollte derartige Operationen natürlich abwehren, aber man kann schlechterdings nicht darüber jammern.
(Des weiteren vermisse ich ebenso deutliche Auftritte deutscher Politiker gegen die Aktivitäten der US-Dienste in und gegen Deutschland - Stichwort: Echelon. Hier wird doch nicht etwa mit zweierlei Maß gemessen?)

Die Anschuldigungen sind, wie wir gesehen haben, nach jetzigem Stand reichlich dünn. Der Berg kreißte - und gebar eine Maus. Da erhebt sich natürlich die Frage, weshalb so viel Getöse veranstaltet wird. Warum schreiben manche Zeitungen trotz der dürren Fakten von einem Fall im Ausmaß des Kalten Krieges, obwohl es damals dergleichen nicht gegeben hat? Warum erfolgte die medienwirksame Festnahme kurz nach dem gemeinhin als positiv bewerteten Besuch Dmitrij Medwedews in den Vereinigten Staaten, wo das FBI den vermeintlichen Spionagering doch schon zehn Jahre lang observiert haben will? Da liegt der Verdacht nahe, daß es Beamte in den amerikanischen Sicherheitsbehörden gibt, die den Republikanern nahestehen und die Rußlandpolitik ihres Präsidenten torpedieren wollen, indem sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt diese "Verschwörungen" aus dem Hut zaubern. Selbst wenn dies in der großen Politik nicht gelingen sollte, dann wird wenigstens der amerikanischen Öffentlichkeit das "Reich des Bösen" (Ronald Reagan) als ewiger Feind präsentiert. Wen kümmern da schon Fakten.
(BTW: Reagan hat im Jahre 1988 die Kraft gefunden, seine berühmt-berüchtigte Äußerung zurückzunehmen. Anderen US-Politikern fehlt diese jedoch bis heute.)

Welche internationalen Folgen wird der "Spionageskandal" voraussichtlich haben? Da die Beschuldigten vermutlich weder Spione noch sonstige "Agenten" sind, wird es wohl auch keine Retorsion - etwa in Form einer Ausweisung von US-Diplomaten oder ähnlichem - geben. Allerdings dürfte sich der Stil, mit dem solche Fälle behandelt werden, ändern. Bisher war es in Rußland üblich, überführte Spione - alleine 149 im Jahr 2008 - aus dem Verkehr zu ziehen, ohne daraus einen öffentlichen Skandal zu machen. Die Gerichtsverhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen statt und die Beschuldigten wurden - je nach ihrer Kooperationsbereitschaft mit dem Gericht - zu mehr oder minder kurzen Haftstrafen verurteilt und Ausländer danach einfach abgeschoben. In der russischen Presse wurde zwar bisweilen gemunkelt, der Angeklagte habe etwa für den deutschen BND oder für einen chinesischen Dienst gearbeitet, doch wurde dergleichen in fast keinem Fall offiziell bestätigt. In der RF geht man damit pragmatisch um: Die spionieren gegen uns und wir spionieren gegen sie. Ergo werden die ertappten "Kundschafter" verurteilt, ohne die Beziehungen zu jenen Staaten, für die sie tätig waren, zu belasten. Das könnte sich in Zukunft ändern. Ob sich die USA mit dieser aufgeblasenen Affäre einen Gefallen getan haben?

Was bleibt also von der ganzen Aufregung? Zunächst die Erinnerung an eine Lachnummer. Und, wie ein amerikanischer Jurist und Blogger bemerkt, vielleicht die politische Karriere eines nachrangigen Staatsanwalts:
"yeah, i think there is a prosecutor in NY who has his eye on a political career ... based on the allegations in the complaints, this was apparently the most half-assed "espionage" operation ever - they met a former nuclear scientist ... oh noes!"
Andernorts begründet er diese Hypothese wie folgt:
"[...]

The career hypothesis was an inescapable conclusion after reading how the prosecutor Michael Farbiarz gesticulated at Chapman and exclaimed, “This is a Russian agent!” Fabiarz isn’t a nobody – he led the Oil for Food scandal prosecutions – but he’s only an Assistant U.S. Attorney and AUSA’s in NY’s southern district often try to springboard off of major cases into politics or leadership positions at main justice. You’re right, though, the “espionage” charges are extremely weak (“oooo, you didn’t register with the state department”), and a bright middle school student could bring a successful money laundering case. To me, it seems like they hadn’t amassed anything significant on these people over years of surveillance, and the prosecutor hastily arranged fake meetings with “Russian officials” – literally last Saturday in Chapman and Semenko’s cases."

Weiterführende Links:

Spy vs. Spy! Feds Bust SVR "Deep Cover" Espionage Ring

Russia Is Laughing at Us

FBI arrests of 10 "Russian spies" reveal a sloppy operation

Why Weren't the Russian 'Spies' Charged with Espionage?

Spionage-Affäre: Schlechtes Timing

Are the Russians Really Coming?

Obama is a Bum, Quick Bring Out the Bad Russians

The Empire Strikes Back?

Spy Ring’s Ripple Effects: Will the Arrests Hurt Other Operations?

Not-Quite-Secret Agents: the Spy Scandal

The rank naivete of the BBC: or, states spy on each other!



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Bild: AP.
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