Montag, 3. Oktober 2011

Der Schießstand in Mytischtschi




Es gibt einen sowjetischen Actionfilm über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, der eine eigenartige Eingangsequenz aufweist. Parallel zur Vorstellung der Schauspieler werden Bilder aus verschiedenen Sportarten gezeigt. Ferner führt einer der Soldaten eigenartige Schießkunststücke vor. Der Film heißt "Otrjad osobogo nasnatschenija" (dt.: Abteilung besonderer Bestimmung oder einfach Sonderabteilung) und stammt aus dem Jahre 1978. Die Handlung läßt sich kurz zusammenfassen: Eine kleine Gruppe von Spezialkämpfern wird hinter den deutschen Linien abgesetzt, um einen beim Rückzug zurückgebliebenen Raketenwerfer vom Typ "Katjuscha" zu zerstören. Das ist durchaus spannend, doch viel interessanter finde ich die Vorstellung der Soldaten in den ersten Minuten des Films (siehe obiges Video). Die Einheit besteht nämlich fast ausschließlich aus Leistungsportlern verschiedener Disziplinen. Und eine solche Spezialeinheit hat es in der SU tatsächlich gegeben.

Im Juni/Juli 1941 wurde in Moskau die Selbständige Motorisierte Schützenbrigade besonderer Bestimmung (russ. Abk.: OMSBON) vom NKWD formiert. Das Personal bestand größenteils aus Freiwilligen, an denen damals kein Mangel bestand, darunter viele Studenten und Sportler aus Moskau und Umgebung. Dies bescherte ihr den Spitznamen "sportliche Spezialeinheit". Später erreichte die Brigade eine Stärke von rund 2500 Mann und gliederte sich in zwei Schützenregimenter plus Unterstützungseinheiten. Obwohl die Organisation recht konventionell war, nahm die OMSBON nicht nur an der Schlacht um Moskau Ende 1941 teil, sondern stellte vor allem Aufklärungs- und Diversionsgruppen auf, die hinter die deutschen Linien verbracht wurden, um dort den kleinen Krieg zu führen. Anfang 1943 wurde die Brigade in dieser Form aufgelöst.

Am 9. Mai 2011 trafen sich die OMSBON-Veteranen im Moskauer Dynamo-Stadion, um ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken:





Der bulgarische Emigrant Iwan Winarow, der seit den 1930er Jahren Offizier der Roten Armee war und dort in der Auslandsaufklärung diente, beschrieb die Aufstellung der Brigade in seinen Memoiren wie folgt:
"[…]

Das Internationale Regiment der Sonderbrigade zählte am Anfang nicht ganz tausend Soldaten. Fast ein Drittel, etwa dreihundert Genossen, waren spanische Emigranten. Die anderen waren Tschechoslowaken, Polen, Österreicher, Ungarn, Jugoslawen, Deutsche, sechs Vietnamesen, Franzosen, Finnen. Es gab sogar einige Engländer im Regiment, Mitglieder der Kommunistischen Partei Großbritanniens, die der Krieg auf einer Moskaureise überrascht hatte. Die österreichischen Genossen stellten nach den Spaniern die stärkste Gruppe. […]

Die Zusammensetzung des Regiments änderte sich ständig. Immer noch trafen im Winter 1941 ausländische Genossen in Moskau ein, die ihre Parteiführungen von Baustellen und Instituten des ganzen Landes riefen. Andere Genossen stellten wieder nationale Brigaden auf, Grundstock für die Bruderarmeen, die später an der Seite der Roten Armee den Kampf gegen die Aggressoren aufnahmen. […]

Das zweite Regiment der Sonderbrigade stellten Moskauer Partei- und Komsomolfunktionäre, Mitarbeiter der Aufklärung und Gegenaufklärung sowie Mitglieder der Moskauer Sportorganisation „Dynamo“. Zu diesen Truppenteilen gehörten also hochqualifizierte, militärisch gutausgebildete und für Sonderaufgaben vorbereitete Genossen, die jeden Auftrag erfüllen konnten. Welche Aufgaben hatten sie?

Ursprünglich war die Sonderbrigade zur Sicherung Moskaus aufgestellt worden. Später änderte sich die Lage an der Front und damit auch die Aufgabe. Die Brigade wurde größer und verwandelte sich in eine Basis für die Ausbildung der Kundschafter- und Fallschirmgruppen, die hinter der Front wirkten. Sie entwickelte sich auch zu einer Zentrale für die Koordinierung, Hilfe und Organisation der Partisanenbewegung im Rücken des Feindes.
Im Oktober/November [1941] hatte die Brigade nur eine einzige Aufgabe, die Verteidigung der sowjetischen Hauptstadt.

Unter der Leitung der Kommunistischen Internationale, der Militäraufklärung und des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten wurde die Sonderbrigade in kurzer Zeit vervollständigt, organisiert und ausgerüstet. Kommandeur der Brigade wurde M. F. Orlow, der als Kommunist schon am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, Kommissar Oberst A. A. Maximow und Stabschef Oberstleutnant F. J. Sedlowski. Kommandeur des Internationalen Regiments wurde W. W. Gridnew und ich wurde Kommissar. Die meisten Offiziere der Brigade kannte ich von der „Frunse“-Akademie oder aus der gemeinsamen Arbeit in der Verwaltung Aufklärung.

Die Sonderregimenter waren in den Gebäuden der Volkskommissariate für Verteidigung und für Innere Angelegenheiten stationiert und taten dort ständig Dienst.
Als sich die faschistischen Truppen Moskau unmittelbar näherten, ging auch die Sonderbrigade an die Front. Ihr Abschnitt war etwa 30 Kilometer breit und einen Kilometer tief. Der Stab der Sonderbrigade befand sich in einem Raum des Hauses der Gewerkschaften.

[…]" (I. Winarow: Kämpfer der lautlosen Front, 3. Aufl., Berlin 1984, S. 215 f.)



Ein erstes Konzept für den Einsatz von Spezialkräften im Rücken des Gegners hatte im Sommer 1941 der Schriftsteller und frühere Nachrichtendienstoffizier Dmitrij N. Medwedew vorgelegt. Medwedew hatte 1939 ausscheiden müssen, nachdem sein Bruder den stalinschen Repressionen zum Opfer gefallen war; erst nach Kriegsbeginn wurde er reaktiviert. Ins Werk gesetzt wurde sein Konzept u.a. von Wjatscheslaw Gridnew, zunächst Chef des 1. Regiments und ab August 1942 der gesamten Brigade. Gridnew hatte zuvor in den Grenztruppen und der Auslandsaufklärung des NKWD gedient.

Die ersten Ausbildungsbasen für die Soldaten der OMSBON waren das Moskauer Dynamo-Stadion und die Schießanlage in Mytischtschi, welche nordöstlich der Hauptstadt liegt und ebenfalls zur Sportorganisation Dynamo gehörte. Der Schießstand war 1925 errichtet worden und diente vor allem dem Schießtraining von Polizisten. In der Kriegszeit dominierte die militärische Nutzung, während danach die sportliche in den Vordergrund trat. Nach der OMSBON hielt eine Scharfschützenschule auf dem Gelände Einzug. Auch in den Folgejahren haben auf den dortigen Bahnen z.B. die Scharfschützen der Spezialgruppe "Alfa" trainiert.



Die Trennlinie zwischen reinem Schießsport und vormilitärischen Training wurde in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten ohnehin nie so stark gezogen wie etwa in Deutschland. Während man in der UdSSR (und heute in ihren Nachfolgestaaten) in jedem guten Schützen einen potentiellen Vaterlandsverteidiger
erblickt, war man selbst in der DDR um eine strikte Unterscheidung bemüht. Aufschlußreich sind in dieser Hinsicht verschiedene Artikel, die in den Jahren 1958 bis 1960 in der Zeitschrift Der Sportschütze erschienen sind. Viele ostdeutsche Schützen wollten vor allem unpolitische und unmilitärische Nur-Sportler sein. (Vgl. insbesondere W. Schöer: Scharfschütze oder Sportschütze?, in: Der Sportschütze 8/1958, S. 20.)

Doch zurück nach Mytischtschi. Dieser Schießstand hatte für den sowjetischen Sport eine große Bedeutung und war fast schon legendär (insoweit paßt der Vergleich mit dem Stand in München-Hochbrück). Nach größeren Umbauten wurde hier die UIT-Weltmeisterschaft 1958 ausgetragen. 1980 folgten die Schießwettbewerbe der Olympischen Sommerspiele und 1990 erneut die ISSF-WM. Die Anlage war eine der größten ihrer Art in der UdSSR; dort wurden zahlreiche nationale und internationale Wettkämpfe ausgetragen. Ferner waren und sind dort zahlreiche Schießklubs beheimatet.

Nach dem Ende der UdSSR begann eine Odyssee um das Gelände, das zwischenzeitlich unter obskuren Umständen mehrfach die Besitzer gewechselt hat und heute der Errichtung von Luxusvillen dient. Der Schießbetrieb wurde schon vor Jahren weitgehend eingestellt und die Schießstände verfielen oder wurden sogar abgerissen. Derzeit wird ein Rechtsstreit mit dem Ziel geführt, die Anlage an Dynamo zurückzugeben und wieder für den Schießsport herzurichten. Ob dieses Unterfangen trotz eines positiven Gerichtsurteils vom April 2010 gelingen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin haben es die Moskauer im Oktober letzten Jahres geschafft, eine Demonstration für die Wiederherstellung des Schießstandes zu organisieren (siehe auch das Video unten).





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